Liam hatte sein Glas kaum abgesetzt und den Whiskey seine Kehle hinabgleiten lassen, als man ihn doch beinahe dazu brachte, sich zu verschlucken. Aber ein professioneller Engel war ja kein professioneller Engel wenn er mit derartigen Sprüchen nicht umzugehen wusste. Also lächelte Liam schlichtweg, besah sich den Inhalt seines Glases eingehend und lächelte selig, als er auf Viktors Vermutung mit einem entspannten „Wer weiß das schon“ antwortete. Streng genommen war seine Aussage ja sogar richtig und nicht gelogen, denn immerhin stand sein Status momentan auf dem Spiel und er wusste sich selbst nicht recht einzuordnen. Na wenn das mal keine Bonuspunkte fürs Befolgen eines Gebots gab!
Schließlich sah Liam seinem neuen Bekannten fest in die Augen und suchte kurz nach Skepsis oder einem Anflug dessen, was aus Lucius nur so heraus troff. Aber nach dem er befunden hatte, dass sein neuer Freund und Whiskeykenner weder schwul noch bösartig war, beschloss Liam, sich ebenfalls vorzustellen.
„Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Viktor. Mein Name ist Liam und wenn es für Sie angenehmer ist, können wir meinetwegen direkt zum „Du“ übergehen. Ich hab's eigentlich nicht so mit Förmlichkeiten“, erklärte er sich so charmant wie er konnte und lächelte sogar höflich.
„Fragen sie meinen Begleiter, der kann es Ihnen bezeugen. Ich bin eigentlich kein Umgang für feine Gesellschaften und noble Kreise.“ Sein Geständnis war nur ehrlich gemeint und es war einfach Liams Art, direkt mit offenen Karten zu spielen. Er hatte nicht viel übrig für subtile Mauscheleien und Versteckspielchen, also ließ er seinen Gegenüber am besten direkt wissen, woran er war.

Hut ab, Viktor war wirklich ein Gastgeber wie er im Buche steht. Als das Etui mit den fein säuberlich gerollten Kubanern zu ihm geschoben wurde, hoben sich Liams Augenbrauen erneut vor Staunen über den erlesenen Geschmack. Wenn er auch erst etwas Geld zusammen hatte, würde er sich ebenfalls mit ein paar kleinen Glücklichmachern eindecken müssen. Und bunte Pillen standen dabei definitiv nicht auf seiner Liste. Er hatte ein Mal in seiner gesamten Lebenszeit Kontakt mit neuartigen Drogen gehabt und das hatte böse geendet. Er erinnerte sich nur ungern an das Blutbad und die verkohlten Leichen zurück, die er hinterlassen hatte, als er die Kontrolle verloren hatte.
Für einen kurzen Moment war er wieder zurückversetzt ins Jahr 2003. Damals hatte er zwei Fehler gemacht: Er hatte Gefallen an einem jungen Menschenmädchen gefunden und er war ein Mal mit ihr Ausgegangen. Unter dem Vorwand sie beschützen zu wollen, war er mit ihr in einem viel zu bunten Club gewesen und dort war sie von irgendeinem Kerl belästigt worden. Er hatte den Kerl wieder und wieder verscheucht und dann hatte er wohl irgendwann zu sehr auf sie geachtet, anstatt auf sein Getränk.
Das synthetische Zeug, das ihm untergejubelt worden war, hatte ihn völlig aus der Bahn geworfen und er hatte sich nicht mehr im Griff gehabt. Seine Kräfte waren außer Kontrolle geraten und hatten beinahe alle Clubbesucher in seiner nahen Umgebung in Asche verwandelt. Er musste noch weiter gewütet und die restlichen Überlebenden mit bloßer Hand zerrissen haben, denn als er wieder zu sich gekommen war, waren seine Hände blutverschmiert gewesen und der Geruch von verbranntem Fleisch hatte in der Luft gehangen. Und das Mädchen war ihm auch zum Opfer gefallen…
Der Vorfall war nach langen Diskussionen als Unfall verzeichnet worden, Liam war gemaßregelt worden, man hatte seine Kräfte, die damals sehr ausgeprägt und extrem stark gewesen waren, radikal reguliert, sodass sie nun im Vergleich zu damals auf einem Minimum funktionierten. Aber er hatte Engel bleiben dürfen. Aber zu welchem Preis?

Der Duft des Rauches, des Viktor ausblies, holte Liam in die Wirklichkeit zurück und er schüttelte die Erinnerungen wieder von sich, verschloss sie tief in seinem Unterbewusstsein und wandte sich dem Etui zu. Mit geübtem Griff präparierte auch er seine Zigarre und schnupperte noch mal am gerollten Tabak, ehe er ihn entzündete und das Aroma genoss. Das und ein weiteres Glas Whiskey halfen ihm wieder aus seinem kleinen Tief heraus.
Als auf einmal das Wort an ihn gerichtet wurde, musste er sich noch kurz darauf konzentrieren, was Viktor von ihm hatte wissen wollen. Da er aber von Kräften gesprochen hatte, nahm er an, dass dieser Mann wohl doch nicht ganz unwissend war. Fragend blickte er zu Lucius hinüber um herauszufinden, wie viel er von sich preisgeben durfte und wie weit der andere Mann im Bilde war. Man konnte einem unbescholtenen Sterblichen ja nicht einfach auf die Nase binden, dass man mit Blitzen um sich warf, wenn man wollte und dass man tatsächlich ein Gesandter des Himmels war.

Bei dem Versuch, sich Lucius im Kampf vorzustellen, gluckste Liam ungläubig. Er hatte zwar davon gehört, dass Lucius ein sehr Fähiger Kämpfer war, aber nach wie vor glaubte er nicht daran. Entschuldigend winkte er ab, zog noch kurz an seiner Zigarre um sich zu beruhigen und wurde dann wieder sachlich.
„Wenn die Dinge so aussehen, dann muss ich dir sagen, dass du hier tatsächlich zwei Engeln an einem Tisch sitzt. Meine Flügel nutze ich aber schon seit vielen Jahren nicht mehr, also musst du dir über meine Spannweite keine Gedanken machen. Vielleicht verrate ich sie dir irgendwann mal.“ Er lächelte Viktor entschuldigend an und fuhr dann fort.
„Was eine Unterkunft angeht, würde ich etwas modernes, schlichtes bevorzugen. Ein einziger großer Raum würde mir genügen. Wenn es nötig ist, wohne ich in einer Lagerhalle, wo ich meine Ruhe habe, aber wenn du etwas ruhiges als Loft für mich auftreiben kannst, wäre das natürlich ein Segen. Und es wäre von Vorteil, wenn die Wohnung über eine ausreichende Sicherungsanlage verfügt. Und ich rede jetzt nicht von einer Alarmanlage, sondern tatsächlich von Stromsicherungen. Die sollten sich nämlich rechtzeitig selbst abschalten können, da mich gelegentlich ein wenig geladen sein kann, wenn du verstehst.“
Zur Untermalung seiner Ausführungen ließ er in seiner linken Hand eine Blitzkugel entstehen, die vor sich hin knisterte und zuckte, als würde sie sich nach Freiheit sehnen. Kurz darauf ließ Liam sie wieder verschwinden.
„Ach ja, und wenn ich mir was wünschen darf, hätte ich gern einen großen Balkon oder eine Dachterrasse. Und so eine schöne Minibar wie diese hier", damit spickte er verstohlen hinter sich und bewunderte noch einmal Viktors Spirituosensammlung.
„Was Name und Co angeht…such dir was aus. Meinen Vornamen würde ich aber gern behalten und wenn du ein Geburtsdatum brauchst, nimm irgendwas in den 70ern. Alles andere steht dir frei.“

Das mit der neuen Identität klang gut für Liam. Eine Herkunft aus Manchester? Warum nicht? Er wollte schon immer Mal Brite sein und das mit dem Akzent könnte er entweder üben oder abgelegt haben. Wohl eher letzteres… Viktor schien sich sehr sicher zu sein, dass es nicht lang dauern würde und wenn er weiterhin ein so fürsorglicher Gastgeber wäre, würde Liam bestimmt nicht nein sagen, wenn man ihm anbot, so lange auch Viktors Gast zu bleiben. Er erhob sein Glas also mit seinem neuen Freund.
„Auf die Freundschaft und auf den Alkohol trinke ich gern mit dir. Zum Wohl!“, damit leerte auch er sein Glas. Dass er sich weigerte, auf die Liebe zu trinken war einfach etwas Persönliches. Er hatte sich diese Art von Gefühlen abgewöhnt. Mit der Liebe war er ein für alle Mal fertig.

Als Liam am nächsten Morgen erwachte, fand er sich in einem fremden, aber unheimlich bequemen Bett vor. Die Wäsche roch gut, das Kissen war weich und der Raum, in dem er sich befand, war geschmackvoll, aber nicht zu pompös eingerichtet.
Gähnend setzte er sich auf und streckte sich, bis ihm auffiel, dass er offenbar nackt geschlafen hatte. Suchend sah er sich nach seinen Kleidern um und fand sie in einer Ecke des Raumes, wo er sie über einen Stuhl geworfen haben musste. Sie hatten es letzte Nacht ziemlich lange ausgehalten. Viel Alkohol war geflossen und er erinnerte sich an die eine oder andere Zigarre, die er genossen hatte, was auch den belegten Geschmack in seinem Mund erklärte.
Widerwillig erhob er sich und warf einen Blick durch eine der Türen, die in an sein Zimmer grenzende Räume führten. Hinter der ersten fand er einen überschaubaren begehbaren Kleiderschrank und hinter der nächsten befand sich ein mit hellem Granit und weißen Fliesen hergerichtetes Badezimmer. Er nahm eine ausgiebige Dusche und genoss das heiße Wasser auf seiner Haut so lange, bis der Raum vor heißem Dampf nicht mehr klar zu sehen war. Danach wickelte er sich in ein weiches Handtuch und durchstöberte den Waschtisch nach Utensilien wie Zahnbürste und Co.
Eine Zahnbürste war schnell gefunden, ebenso wie Zahnpasta, nur einen Rasierer würde er sich besorgen müssen, aber sein Bart konnte auch noch einen Tag warten.
Als Liam fertig war, verließ er das Bad nur mit einem Handtuch um die Hüften und machte sich daran, wieder in seine Kleider zu schlüpfen. Einem Blick auf die Uhr zu Folge war es bereits 10 Uhr in der Früh. Er hatte wohl einige Zeit im Bad verbracht, denn er meinte sich zu erinnern, beim Aufstehen 9:20 gelesen zu haben. Also verließ er auch schließlich sein Zimmer und versuchte, sich im Haus zurecht zu finden. Irgendwo mussten ja auch Viktor und dieser Strahlemann von einem Bewährungshelfer sein.

Liam war eine Weile reichlich ziel- und orientierungslos durchs Haus geirrt, bis ihm schließlich eingefallen war, dass Lucius sich mit Viktor im Zimmer gegenüber von seinem einquartiert hatte. Fluchend machte er am anderen Ende des Gebäudes kehrt und ging wieder in Richtung der Treppe im Eingangsbereich, nur um Lucius und Viktor eben jene hinunterflanieren zu sehen.
Mit einem schadenfrohen Lächeln stellte er fest, dass Viktor ganz offensichtlich völlig verkatert war, wohingegen er und Lucius putzmunter waren. Das war eben einer der Vorteile daran, ein Engel zu sein.
„Schafft er es allein oder muss ich ihn kurz reanimieren?“, fragte Liam den ihn entgegen kommenden Lucius mit einem Grinsen, wobei er in seinen Händen demonstrativ kleine Blitzkugeln funkeln ließ. Die waren mitunter hilfreicher und wirkungsvoller als jeder Defibrillator. Dann sah er prüfend Viktor an, der eher mit dem Elan einer Leiche die Treppe hinunterwankte und er spielte mit dem Gedanken, ihm erneut einen Zivi anzubieten.

Vorerst verwirrt betrachtete Liam das Schauspiel. Dieses kleine Teil, mit dem Viktor hantierte, schien irgendeine Art Messgerät zu sein. Als er dann davon sprach etwas essen zu müssen und Liam den Traubenzucker entdeckte, der schon parat lag, zählte er nur eins und eins zusammen.
„Ach, ein Insulin-Junkie? Oder musst du dir das Zeug noch nicht spritzen? Hättest du lieber ein paar ordentliche Pancakes zum Frühstück? Mit Ahornsirup?“, fragte Liam stichelnd. Er konnte sich gut vorstellen, dass sich Viktor schon beim bloßen Gedanken an Essen der Magen umdrehte. Zumindest hielt er es nach dessen Gejammer nicht für unwahrscheinlich.
Als Lucius anfing, Viktor schließlich zu bemuttern, nahm Liam kurzerhand neben dem Jammerlappen Platz, lehnte sich in seinem Stuhl bequem zurück und gab seine Bestellung auf.
„Also, Lucy, wenn du schon dabei bist: Ich nehme einen Kaffee, schwarz bitte. Und ein paar Spiegeleier und Bacon, falls sowas da ist. Und unserem Freund hier zauberst du lieber auch was Nahrhaftes. Nicht, dass ich ihn gleich wirklich noch unter Strom setzen muss. Nicht, dass ich ein Problem damit hätte, aber dann würde dem armen Kerl erst mal noch ne ganze Weile alles weh tun, was so weh tun kann.“ Er lächelte entschuldigend in Viktors Richtung.

Auch Liam blieb wie angewurzelt stehen und blähte die Nasenflügel, so als würde er eine Witterung aufnehmen wollen. „Ja…das war…war das eine dämonische Präsenz? Schwach, aber doch markant. Und sie kam von gar nicht weit weg. Was meinst du, Lucius?“ Liams Neugierde war geweckt und es ging doch nichts über eine schöne Abreibung für einen Dämonen am Morgen. Zu schade nur, dass er noch nicht mir Waffen und dergleichen ausgestattet war. Das würden sie bald in Angriff nehmen müssen. Munition für eine Pistole würde er ja nicht brauchen, da er auch seine Blitzenergie als solche nutzen konnte, aber er brauchte eine Art Medium, ein Werkzeug, auf das er sich konzentrieren konnte. Früher war das alles einfacher gewesen, denn da hatte er mit seiner Kraft auf dem gleichen Level gestanden wie Lucius und war in der Lage gewesen, auch Gegenstände zu erschaffen. Nach seiner Maßregelung allerdings bekam er das nicht mehr hin und war froh, dass von seiner Macht überhaupt noch etwas übrig war.